Claudiu Silvestru, 25.08.2025
Bedeutung ist eine der zentralen menschlichen Fähigkeiten: Sinn zu erkennen, zu erzeugen und zu deuten. Über Symbole, Geschichten und Rituale haben Gesellschaften seit jeher Orientierung geschaffen und ihre Welt verständlich gemacht. Doch die Begründung von Bedeutung verändert sich. Was einst im Symbolischen, im kulturell Gewachsenen und im narrativ Vermittelten verankert war, wurde im 20. und 21. Jahrhundert zunehmend in Zahlen, Skalen und Scores übersetzt. Dieser Übergang – von Symbol zu Score – prägt nicht nur digitale Medien, sondern reicht tief in Felder wie das Kulturerbe, die Baukultur oder die Nachhaltigkeitspolitik hinein.
Am Beispiel des UNESCO-Welterbes zeigt sich, wie Anerkennung und Kommerzialisierung ineinandergreifen: Stätten von universeller Bedeutung sollen bewahrt werden, geraten jedoch gleichzeitig unter den Druck standortbezogener Verwertungslogiken und standardisierter Bewertungsverfahren. Mit der Entwicklung Künstlicher Intelligenz verschärft sich diese Tendenz – sie erlaubt es, zuvor nicht erfassbare Datenmengen zu analysieren, droht aber die menschliche Kompetenz zur qualitativen Deutung weiter in den Hintergrund zu drängen.
Dieser Essay widmet sich der Transformation von Bedeutung im Spannungsfeld zwischen qualitativer Reflexion und quantitativer Argumentation und fragt, welche Folgen diese Entwicklung für kulturelle, soziale und technologische Zukunftsfragen hat.
Was ist Bedeutung?
Ein grundlegender Wesenszug des Menschen ist seine Fähigkeit, Sinn zu erschließen – auch dort, wo es keine vorgefertigten Deutungen gibt. Der Mensch lebt nicht nur in einer physischen, sondern in einer symbolisch geprägten Welt (Cassirer, An Essay on Man, 1944). Aus dieser symbolischen Verfasstheit entsteht kulturelle, wissenschaftliche und religiöse Innovation: Bedeutung wird entdeckt, erzeugt und in sozialen Praktiken stabilisiert.
Doch Sinn ist nie neutral. Er wird durch Macht geordnet, die bestimmt, was sichtbar ist und was im Verborgenen bleibt (Foucault, The Archaeology of Knowledge, 1972). Damit wird Bedeutung selbst zu einer Ressource, die soziale Ordnung sichern und Hierarchien legitimieren kann. Religiöse Symbole, dynastische Rituale oder nationale Mythen haben seit jeher dazu beigetragen, Zugehörigkeit zu stiften und Abgrenzung zu erzeugen. Besonders drastisch zeigt sich dies zum Beispiel in der Rassenlehre des 19. Jahrhunderts oder in der Inszenierung von „Reinheit“ und Abstammung, wo Sinn zur Legitimation von Ausgrenzung und Gewalt instrumentalisiert wurde.
Die Zuschreibung von Mehrwert über den Materialwert hinaus ist kein modernes Phänomen. Die Stephanskrone stand für politische Legitimität, Reliquien für sakrale Heiligkeit. Doch mit Industrialisierung, Massenproduktion und globalen Märkten holte die Moderne den symbolischen Mehrwert aus exklusiven Sphären von Religion und Herrschaft heraus und stellte ihn ins Supermarktregal. Zeichen und Symbole wurden zu alltäglichen Konsumgütern, deren Wert weniger im Material als in Markenidentität, Lifestyle und Image lag (Baudrillard, Simulacres et Simulation, 1981). Damit verschob sich der Akzent: nicht mehr Substanz, sondern Politur wurde zur ökonomischen Basisressource.
Wie wird Bedeutung argumentiert?
Bedeutung zeigt sich nicht nur in ihrer Existenz, sondern in der Art, wie sie begründet wird. Die „Argumentation von Bedeutung“ beschreibt jene Verfahren, mit denen Menschen den Wert von Dingen, Ereignissen oder Symbolen rechtfertigen. Mit der Kritik an der Kulturindustrie wurde deutlich, dass Sinn auf standardisierte Formate reduziert wird. Qualitative Argumentationen orientieren sich an Kontext, Authentizität, historischer Tiefe oder kultureller Resonanz. Quantitative Argumentationen hingegen übersetzen Sinn in Zahlen: Verkaufsstatistiken, Reichweiten, Benchmarks, Rankings, Klicks oder Likes.
Besonders sichtbar wird die Entwicklung in der Wissenschaft. Wo früher argumentative Qualität – Originalität, Tiefe, methodische Strenge – im Zentrum stand, zählen heute zunehmend Indikatoren wie Impact Factors, Citation Indices und Rankings. Bedeutung wird hier in Zitierhäufigkeiten und Platzierungen übersetzt: Zahlen, die Objektivität suggerieren, aber vor allem Sichtbarkeit und Marktmechanismen der Aufmerksamkeit abbilden. Damit verlagert sich die Legitimierung wissenschaftlicher Arbeit von inhaltlicher Auseinandersetzung zu numerischer Vergleichbarkeit.
Diese Tendenz verstärkt sich im Zeitalter von Big Data. Forschung, Entwicklung und Politik orientieren sich zunehmend an Indikatoren, weil Zahlen Objektivität versprechen. Der IPCC-Synthesebericht zum Klimawandel (2023) stützt sich nahezu ausschließlich auf standardisierte Modelle und Messdaten. Der Global Competitiveness Index des Weltwirtschaftsforums (2020) reiht Staaten nach numerischen Kriterien in Ranglisten ein. Auch die UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs, 2015) definieren Fortschritt fast nur über Indikatoren. In all diesen Fällen verdrängt die scheinbare Sicherheit der Zahlen die konfliktreiche, aber gehaltvolle Debatte über Sinn und Kontext.
Das UNESCO-Welterbe: Kann Einzigartigkeit standardisiert erfasst werden?
In der Baukultur wird diese Verschiebung besonders greifbar. Nachhaltigkeits- und Gebäudezertifizierungen übersetzen komplexe Qualitäten in Punktesysteme: Energieverbrauch, CO₂-Emissionen oder Materialwahl lassen sich in Scores fassen. So entsteht Vergleichbarkeit, und Transparenz wird erhöht – zweifellos wichtige Fortschritte für das nachhaltige Bauen. Doch was sich nicht standardisieren lässt – das ästhetische Erlebnis, die kulturelle Authentizität oder die soziale Integrität eines Gebäudes – verschwindet oder wird marginalisiert, weil es nicht in Benchmarks passt. Damit zeigen Zertifizierungssysteme einerseits exemplarisch, wie Sinn in Zahlen transformiert wird. Gleichzeitig machen sie sichtbar, dass der Ansatz überall dort, wo es um qualitative Besonderheiten geht, an seine Grenzen stößt. Diese Spannung wird im UNESCO-Welterbe besonders sichtbar – ein Feld, in dem der Anspruch auf Unverwechselbarkeit mit der Logik standardisierter Kriterien kollidiert.
Mit dem Konzept des Outstanding Universal Value (OUV) beansprucht die UNESCO, dass bestimmte Kultur- und Naturstätten nicht nur national, sondern für die gesamte Menschheit bedeutsam sind. Grundlage sind qualitative Kriterien: Authentizität – historische Kontinuität, materielle Echtheit, kulturelle Verankerung – und Integrität – Vollständigkeit und Unversehrtheit. Gerade diese Kategorien sollen jene Dimensionen erfassen, die sich nicht in Zahlen ausdrücken lassen.
Doch auch hier wirkt der Druck zur Standardisierung. Bereits für die Eintragung in die Welterbeliste muss die Bedeutung einer Stätte in vordefinierte Kriterien eingeordnet werden. Zehn Kriterien – vom Nachweis eines „Meisterwerks der menschlichen Schöpferkraft“ (Kriterium i) bis zum Beleg, dass „die für die In-situ-Erhaltung der biologischen Vielfalt bedeutendsten und typischsten natürlichen Lebensräume enthalten“ sind (Kriterium x) – bilden ein Raster, das globale Vergleichbarkeit ermöglicht. Diese Struktur erleichtert Entscheidungen zur Aufnahme in die Liste, übersetzt aber zugleich qualitative Besonderheiten in standardisierte Kategorien und reduziert damit die argumentative Vielfalt.
Seit den 2000er Jahren werden zudem Heritage Impact Assessments (HIAs) eingesetzt, die Wirkungen auf das OUV durch Skalen und numerische Indikatoren vergleichbar machen. Besonders deutlich zeigt sich die Problematik am Beispiel Wiens: Die Altstadt wurde 2001 als Welterbe eingetragen, 2017 jedoch wegen des umstrittenen Heumarktprojekts auf die Rote Liste gesetzt. Obwohl die historische Stadtentwicklung zentraler Bestandteil des OUVs ist, kreiste die Auseinandersetzung im und um das HIA nicht um die Frage eines hermeneutischen Bezugs zwischen zeitgenössischer Baukultur und dem OUV, sondern darum, wie stark die vorgesehenen Maßnahmen Authentizität und Integrität auf Skalen beeinträchtigen.
Das Beispiel zeigt exemplarisch: Wir machen uns die Begründung von Bedeutung zu leicht, indem wir selbst im Bereich von Mechanismen, die Einmaligkeit schützen sollen, den Weg standardisierter Bewertungslogiken gehen.
Bedeutung im Zeitalter der KI
Mit der Künstlichen Intelligenz gewinnt diese Tendenz neue Dynamik. Algorithmen verarbeiten riesige Datenmengen, erkennen Muster und kombinieren heterogene Informationen – sei es Besucherzahlen, Umweltindikatoren oder städtebauliche Szenarien. Damit lassen sich quantitative Bewertungen effizienter und umfassender gestalten als je zuvor.
Das bringt den Menschen an einem Scheideweg. Die eine Möglichkeit ist, weiterhin quantitative Argumentation von Bedeutung zu forcieren und vermehrt eine darauf basierende Interpretation der KI zu überlassen. Komplexe, intransparente Analysen suggerieren Objektivität, während Verantwortung und Reflexion an technische Systeme delegiert werden. Gerade dadurch droht jedoch die qualitative Dimension weiter zu verblassen.
Am zweiten Weg ändert sich nichts an der Aufgabe der KI, die zunehmend die quantitative Dimension der Argumentation übernimmt. Der Mensch erhält und beansprucht dadurch die Freiheit, seine Ressourcen stärker auf das zu richten, was sich nicht algorithmieren lässt: hermeneutisches Verstehen, kontextuelle Einordnung, ethische Reflexion. Damit dies gelingt, darf sich der Mensch nicht in der Sicherheit quantitativer Evidenz einrichten. Er muss den schwierigeren Weg qualitativer Argumentation wieder aufnehmen – als kritische Instanz, die algorithmische Ergebnisse prüft, ergänzt oder auch widerlegt. Nur so bleibt Bedeutung mehr als ein Index in Datenströmen.
Zum Schluss.
Die Verschiebung von Bedeutung – vom Symbol zum Score – ist mehr als eine technische oder methodische Entwicklung. Sie verändert die Art und Weise, wie Gesellschaften Sinn begründen und legitimieren. Verfahren wie Nachhaltigkeitszertifizierungen oder Heritage Impact Assessments zeigen, dass qualitative Dimensionen zunehmend in standardisierte Messgrößen übersetzt werden. Damit werden komplexe Fragen kultureller und sozialer Bedeutung in Kennzahlen überführt, die Vergleichbarkeit und Steuerbarkeit versprechen, aber den Reichtum individueller Kontexte zu übersehen drohen.
Im UNESCO-Welterbe wird diese Ambivalenz besonders sichtbar: Das Prädikat soll die Einzigartigkeit und Unverfügbarkeit kultureller und natürlicher Stätten anerkennen, basiert aber zugleich auf standardisierte Kriterien und erzeugt neue Formen quantitativer Bewertungslogiken. Die Begründung von Bedeutung wird damit zugleich erleichtert – indem sie sich in kategorisierte Zahlen fassen lässt – und gefährdet – weil genau das, was unvergleichlich sein soll, in Vergleichbarkeit überführt wird.
Mit der Künstlichen Intelligenz tritt diese Entwicklung in eine neue Phase. KI verstärkt die Logik des Quantitativen, indem sie Datenmengen in nie dagewesener Tiefe analysiert und kombiniert. Zugleich eröffnet sie die Möglichkeit, menschliche Kapazitäten von der reinen Datenauswertung zu entlasten und stärker auf das zu konzentrieren, was Maschinen nicht leisten können: die qualitative, hermeneutische und ethische Deutung von Sinn.
Die Zukunft der Bedeutung wird daher nicht allein von der Effizienz technischer Systeme abhängen, sondern davon, ob es gelingt, qualitative Argumentationen gegenüber metrischen Rationalitäten zu behaupten. Nur so bleibt das Symbol nicht vollständig im Score aufgelöst – und Bedeutung erhält jene Tiefe, die sie zu einer spezifisch menschlichen Ressource macht.