Zwischen Fläche und Tiefe – Eine Reflexion über Wahrnehmung und Struktur in der Malerei

01.06.2025

Die Illusion der Tiefe – Wahrnehmung als schöpferischer Akt

„Das Auge sieht nicht: es bewohnt“, schreibt Maurice Merleau-Ponty (Merleau-Ponty 1964). Diese Feststellung bringt ein zentrales Paradox unseres Sehens auf den Punkt: Wahrnehmung ist keine neutrale Abbildung, sondern ein aktiver, interpretativer Vorgang. Was wir als Tiefe, Materialität oder räumliche Differenz empfinden, ist selten auf der Fläche selbst verankert – vielmehr entsteht es in der Begegnung zwischen Auge, Licht und Bewusstsein.

In der Natur zeigt sich das deutlich: Wer eine Baumrinde aus nächster Nähe betrachtet oder mit dem Makroobjektiv auf einen Grashalm blickt, wird überrascht sein, wie wenig Information dort „objektiv“ vorhanden ist. Oberflächen sind oft monochrom, changieren allenfalls leicht. Es sind Schattenverläufe, Glanzpunkte und Übergänge, die unser Auge zu Texturen und Tiefen zusammensetzt.

Künstlerische Medien wie das Mosaik oder Glasfenster machen sich dieses Phänomen zunutze: Winzige, einfärbige Elemente – Steine, Glasstücke – fügen sich zu fließenden Bildern zusammen, sobald sich der Blick zurückzieht. Die Differenz entsteht im Kopf. Die Tiefe liegt zwischen den Flächen.

Dem Prinzip ihrer historischen Vorläufer folgend funktioniert auch die digitale Bildwelt: Auch hier entsteht Bildtiefe durch Pixel – homogene Farbflächen ohne Nuancen, die durch ihre Anordnung und das Spiel der Kontraste zu plastischen Illusionen werden.

Meine Malerei setzt genau hier an. Ich arbeite mit der Spannung zwischen Fläche und Raum, zwischen Einzelteil und Gesamtwirkung. Zwei Kunstformen sind dabei für mich besonders prägend: die Architektur – als Ordnung von Fläche im Raum – und der Comic – als narrative Konstruktion mit bewusst stilisierten, strukturierenden Mitteln.

Architektonische Flächen – Struktur, Tiefe, Ornament

Wir lassen gerne historische Architekturkulissen auf uns einwirken – neben Nostalgie und Selbstbild spielt die Komplexität ihres Erscheinungsbildes dabei eine bedeutende Rolle: Die Wahrnehmung dieser Architektur wird wesentlich durch Flächengliederung geprägt, ihre Fassaden erzählen von Beziehungen und Hierarchie durch das Verhältnis von Geometrie, Ornament und Material, von Licht und Schatten.

Ein prägnantes Beispiel ist die Fassade des Wiener Stephansdoms. Trotz ihrer Zurückhaltung im Ornament zeigt sie, wie sich Tiefe aus der gestaffelten Anordnung von Flächen, Licht-Schatten-Kanten und gezielter Materialwahl ergibt. Lisenen, Gesimse und einzelne plastische Elemente rhythmisieren die Oberfläche, ohne sie zu durchbrechen. Dabei erzählen unterschiedliche Steinschichten, Farbnuancen und fein abgestimmte Reliefzonen nicht nur von Konstruktion, sondern auch von Bauphasen, die sich in das Gesamtbild einfügen, statt sich davon abzuheben. Ornamente – Plastiken oder stilisierte Verzierungen – werden nicht flächendeckend eingesetzt, sondern bewusst: Sie gliedern sich unter, um punktuell Geschichten zu erzählen oder Blickachsen zu markieren – wie ein visuelles Zitat, das nur durch seine Einbindung Wirkung entfaltet. Dem gegenüber steht die dekorative Zurschaustellung von Grabplatten, wie Fremdkörper vor einer Bedeutung geladenen Kulisse.

Dieser Kontrast verdeutlicht plakativ die Kritik Adolf Loos (Loos 1908): In seinem berühmten Diktum vom „Verbrechen“ des übermäßigen Ornaments fordert er die Rücknahme, das gezielte, bedeutungshaltige Dekor. Übertreibung führt zur Beliebigkeit – und zur Erschöpfung der Wahrnehmung. Architektur – so Loos – muss durch Proportion, nicht durch Überladung wirken. Dekorelemente haben sich dem Ganzen unterzuordnen, sind Teil der Gesamtwirkung und sollen durch Zurschaustellung nicht zu einer Museifizierung der Fassade und Unterdrückung der Gesamtwirkung führen.

Diese Prinzipien fließen bewusst in meine Malerei ein: Ich arbeite mit „Nullflächen“, mit monochromen oder stilisierten Partien, die durch gezielte Kontur, plastische Kontraste oder detaillierte naturalistisch anmutende Einschübe belebt werden. Der Effekt entsteht im Wechselspiel: zwischen Gliederung und Detail, zwischen Fläche und Perspektive, zwischen ornamentaler Reduktion und erzählerischem Einschub.

Comics und die Architektur der Erzählung

Comics erscheinen auf den ersten Blick weit von klassischer Kunst entfernt – doch sie folgen einer hochkomplexen Bildstruktur. Scott McCloud beschreibt in Understanding Comics (McCloud 1993), wie Leser zwischen den Panels die Handlung „zusammenfügen“ – wie Bedeutungen entstehen durch das, was nicht gezeigt wird, sondern impliziert.

In Comics entsteht Tiefe durch Fläche. Perspektive, Raum, Emotion werden mit bewusst stilisierten Mitteln erzeugt: Linien, Konturen, Kontraste. Eine Handvoll Elemente genügt, um Bewegung oder Drama zu erzeugen – gerade weil sie nicht naturalistisch, sondern strukturell lesbar sind.

Meine Malerei nimmt bewusst Anleihen an dieser Technik: Durch starke Konturen, flächige Schattierungen und das Nebeneinander unterschiedlicher Stilebenen entstehen visuelle Spannungen. Naturalistische Partien überlagern abstrahierte, Perspektiven werden überzeichnet oder gezielt aufgelöst, um emotionale oder dramatische Verdichtung zu erzeugen. In meinen Bildern entwickeln sich Geschichten nicht nur durch das Sujet selbst, sondern durch das Wechselspiel dieser Darstellungsebenen. Figuration und Symbol, Erzählung und Zeichen treten in Dialog. Wie im Comic entfaltet sich die narrative Tiefe durch Kontraste – nicht nur inhaltlich, sondern auch formal.

Zusammenspiel – Wahrnehmung als strukturelle Konstruktion

Tiefe entsteht nicht durch Perspektive allein – sie entsteht durch Struktur. Durch Kontrast, Kontext, Erwartung. Ob in einem byzantinischen Mosaik, an einer gotischen Fassade oder im Raster eines Comics: Das Auge konstruiert Bedeutung im Zwischenraum.

Meine Malerei arbeitet mit dieser Konstruktion: Durch bewusste Vereinfachung und gezielte Überlagerung lade ich die Betrachtenden ein, Bedeutungen selbst zu erzeugen. Es geht nicht um die Abbildung eines Zustands, sondern um die Schaffung eines Raums, in dem sich Wahrnehmung ereignet. Diese Räume sind flach – und doch tief. Sie sprechen die Oberfläche an, um in die Tiefe zu führen. Fläche, Ornament und Kontur treffen einander und laden ein, den Raum zwischen den Linien zu bewohnen.

Loos, Adolf. Ornament und Verbrechen. In Trotzdem, 175–182. Wien: Herold, 1962. (Original 1908).

McCloud, Scott. Understanding Comics: The Invisible Art. New York: HarperCollins, 1993.

Merleau-Ponty, Maurice. Das Sichtbare und das Unsichtbare. Übersetzt von Alphons Silbermann. Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2003. (Original: Le Visible et l’Invisible. Paris: Gallimard, 1964).