28.07.2025
Letzte Woche waren wir in Florenz. Der Besuch des Doms Santa Maria del Fiore war auf zwei Arten möglich. Die erste, weit verbreitete Variante besteht darin, sich als “Alltags-Tourist” in eine hunderte Meter lange Schlange einzureihen: eine Stunde Wartezeit, Hitze, Straßenlärm, Selfiesticks. Die zweite Möglichkeit ist weniger sichtbar, fast schon unscheinbar: man geht einfach zur Messe.
Wir entschieden uns für Letzteres – weil es Sonntag war und weil es hier mehr zu erfahren gab als ein Kreuz auf dem Stadtplan oder eine Sehenswürdigkeit im architektonischen Kanon. Und dann saßen wir dort. Eine Stunde lang. In der Messe. Gregorianischer Gesang. Weihrauch. Der Innenraum gefüllt mit Klang, nicht mit Schritten und Stimmen: Die Orgel, deren Pfeifen an sechs Stellen um den Altar angeordnet sind, füllte die berühmte Kuppel Brunelleschis: der Klang kam nicht aus dem Raum, sondern war der Raum.
Beide Wege – der touristische und der pilgernde – führen zum selben Ort. Und doch ist die Erfahrung eine grundlegend andere. Der Tourist sucht das Bild, der Pilger sucht die Bedeutung. Der Tourist bewegt sich durch Räume, der Pilger wird vom Raum bewegt. Tourismus ist oft ein Konsum kultureller Oberflächen: Architektur als Kulisse, Kunst als Selfie-Hintergrund, Orte als Stationen einer Checkliste. Die Bewegung ist äußerlich – man geht hindurch. Kulturelle Pilgerschaft hingegen – im spirituellen wie im metaphorischen Sinn – ist eine Hinwendung. Keine Aneignung, sondern eine Einlassung. Kein Besuchen, sondern ein Bleiben. Kein Eilen, sondern ein Verweilen.
Der Begriff “kulturelle Pilgerschaft” ist in der Praxis noch wenig etabliert, aber er ist im Kommen. In kulturwissenschaftlichen und touristiktheoretischen Debatten taucht er auf, meist als Gegenbegriff zum Massentourismus. Orte wie Graceland, das Geburtshaus von Goethe, Auschwitz oder das Grab Frida Kahlos werden nicht nur besucht, sondern aufgesucht. Theoretische Vorbilder gibt es einige: von der gegensätzlichen Unterscheidung John Urrys des “gaze” – das Staunen – des Touristen vom “embodied experience” – die tiefgreifende Erfahrung – des Pilgers [1] bis hin zur Idee des tourist-pilgrim continuum Collins-Kreiners, die beide Haltungen als bewegliche Punkte auf einer Skala denkt [2].
Der kulturelle Pilger sucht nicht nur Orte, sondern Geschichten – nicht die touristisch kuratierten, sondern die tiefen, oft widersprüchlichen, erzählten wie unerzählbaren. Er begegnet Kunst nicht als Werk, sondern als Resonanz. Ein Denkmal ist für den Touristen ein Objekt – Für den Pilger ist es ein Subjekt. Für den Touristen ist ein Gemälde da zum Betrachten – Für den Pilger ist es eine Geschichte zum Eintauchen oder eine Ikone zum Beten. Die Performance eines Straßensängers ist für den Touristen eine Kuriosität – Für den Pilger ein Moment der Offenbarung. Yi-Fu Tuan, einer der einflussreichsten Raumtheoretiker des 20. Jahrhunderts, unterschied zwischen “space” und “place”: Raum als abstrakte Möglichkeit und Ort als emotional und narrativ aufgeladene Konkretion [3]. Der kulturelle Pilger verwandelt “space” in “place”, nicht durch Besitz, sondern durch Beziehung.
In kaum einem Raum wird dieser Unterschied so spürbar wie in Kirchen. Dort existieren zwei parallele Wirklichkeiten nebeneinander – aber sie vermischen sich nicht. Touristen laufen auf vorgegebenen Bahnen, sprechen in gedämpftem Ton. Messebesucher setzen sich, schweigen – und öffnen sich. In dieser Trennung liegt ein tiefes Potential sakraler Räume im Zeitalter des globalen Reisens. Sie sind die wenigen Orte, an denen Mensch nicht nur als Konsument begriffen wird, sondern als Teilhaber am Geheimnis. Die Kirche schützt ihre liturgische Funktion. Sie verlangt nicht Eintritt, sondern Haltung. Vielleicht ließe sich mit Mircea Eliade sagen: Der sakrale Raum ist kein homogener Raum, sondern ein durch Ritus geöffneter Zugang zum “axis mundi”, zur vertikalen Dimension des Daseins [4].
Im Museum dagegen ist diese Trennung längst aufgehoben. Kunstwerke, die einst für die Andacht geschaffen wurden – Altäre, Madonnen, Pietàs – stehen heute unter Glas. Sie sind Objekt. Beleuchtet, bewacht, fotografiert. In den Uffizien zum Beispiel ist es nahezu unmöglich, Botticellis Geburt der Venus in Stille zu erleben – sie wird umkreist von Menschen, deren Blick im ständigen Rauschen durch Linsen vermittelt wird. Man schaut, um zu besitzen. Nicht, um zu empfangen.
Natürlich konsumiert auch der kulturelle Pilger: Essen, Schlafplatz, Souvenirs. Aber der Unterschied liegt in der Haltung. Tourismus fragt: Was bekomme ich hier? Pilgerschaft fragt: Was wird mir hier geschenkt – und was bin ich bereit zu geben? Im besten Fall hinterlässt der Pilger keine Spuren – außer vielleicht im Herzen. Im schlechtesten Fall hinterlässt der Tourist nur Spuren – Müll, Lärm, Inflation. Ökologisch, ökonomisch, sozial – der Preis der Orte steigt. Und mit ihm der Bedarf an einer Haltung, die nicht nimmt, sondern achtet.
Was bleibt mir nun nach dem Besuch von Santa Maria del Fiore? Es sind nicht die unzähligen Fotos von Kuppel und Kirche – die auf meinem Handy auf eine wahrscheinlich nie eintreffende Verwendung warten. Es war nicht das Bild, sondern der Ton. Nicht das Sichtbare, sondern das Ergriffene. Nicht das Gedächtnis, sondern das Gedächtnishafte. Mir bleibt der besondere Klang. Einen, den man nicht auf Social Media posten kann. Einen, den man nur hören kann, wenn man wirklich still ist. Vielleicht ist das der Unterschied.
[1] Urry, John: The Tourist Gaze. Leisure and Travel in Contemporary Societies. London: Sage 1990.
[2] Collins-Kreiner, Noga: Researching pilgrimage: Continuity and transformations. in: Annals of Tourism Research 37.2 (2010): 440–456.
[3] Tuan, Yi-Fu: Space and Place: The Perspective of Experience. Minneapolis: University of Minnesota Press 1977.
[4] Eliade, Mircea: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1957.