Potenzial Beständigkeit

14.07.2025

An der Kreuzung Mariahilfer Straße und Karl-Schweighofer-Gasse in Wien stand seit 1894 das Warenhaus Stephan Esders – später Kaufhaus Leiner -, keine architektonische Ikone, aber ein fester Bestandteil des städtischen Gedächtnisses. 2021 wurde es abgerissen, um an seiner Stelle ein neues Kaufhaus zu errichten: eine vermeintlich nachhaltige Baustelle, bei der Abbruchmaterial recycelt werden sollte. Der Rohbau entstand – dann kam 2023 der Baustopp. Nach mehrjährigem Stillstand folgten Planänderung, Konzeptwechsel, eine Umnutzung zu Wohnzwecken. Und nun, 2025, steht der Abriss des  jungen, nie genutzten Rohbaus bevor. Selbstverständlich wieder „unter Einbindung der Recyclingwirtschaft“.

Diese Episode wirkt fast wie eine Parabel auf unseren gegenwärtigen Umgang mit Wirtschaft, Nachhaltigkeit und Zeit. Sie erzählt nicht nur von der Fragilität urbaner Planungen, sondern auch vom ökonomisch gerechtfertigten Verschleiß. Was als zukunftsweisend galt, ist noch vor Fertigstellung obsolet. Die Wiederverwertung der Materialien wird als ökologischer Fortschritt verbucht, doch sie kaschiert ein Grundproblem: Recycling allein ist nicht nachhaltig.

Denn Nachhaltigkeit Menschen gemachter Objekte und Systeme bemisst sich nicht allein an der Frage, ob etwas wiederverwertet wird, sondern ob es überhaupt so hergestellt wurde, dass es Bestand haben kann – an den Weitblick der geplanten Lebensdauer. Die Immobilien- und Bauwirtschaft folgen jedoch einer Logik, in der ebendiese auf 30 bis 50 Jahre “budgetiert” wird – eine Perspektive, die sich aus normierten Lebenszyklusanalysen (LCA) speist. Diese Modelle, oft als Begründung für Abriss und Neubau herangezogen, haben sich zu einem statistischen Fatalismus entwickelt: Was 50 Jahre hält, gilt als „ausgenutzt“ – alles darüber ist Bonus, alles darunter rechtfertigbar.

Dabei erscheint der Fokus auf Effizienz trügerisch. Die optimierten LCAs zeigen, wie sich graue Energie „amortisiert“, wenn ein Gebäude in einer bestimmten Zeitspanne genutzt wird. Was diese Berechnungen ausblenden, ist der kulturelle und materielle Wert des Weiterverwendens. Sie ignorieren, dass der effizienteste Neubau nicht nachhaltiger ist als ein bestehendes, gut gepflegtes und instand gehaltenes Gebäude, das gar nicht erst abgerissen wird. Effizienz allein ist blind gegenüber der Frage, wie viel überhaupt nötig ist.

Hier beginnt das Feld der Suffizienz – jener oft übergangenen Nachhaltigkeitsstrategie, die nicht fragt: Wie effizient kann ich etwas ersetzen?, sondern: Muss es überhaupt ersetzt werden? Suffizienz richtet den Blick auf das Maß. In der Bauwirtschaft hieße das: Bauen, wo es nötig ist, weiterbauen, wo es möglich ist, und vieles einfach instand halten, pflegen, belassen.

Doch genau hier liegt unser kulturelles Defizit. Instandhaltung gilt als Last, nicht als Tugend. Wir wollen pflegeleichte Materialien, wartungsfreie Technik, „wartungsfreie“ Städte. Der ökonomische Druck, möglichst viel mit möglichst wenig Aufwand zu unterhalten, hat zu einem Verhältnis zur gebauten Welt geführt, in dem Pflege und Reparatur als ineffizient erscheinen – und damit als irrational.

Dabei ist der Wunsch nach Beständigkeit durchaus vorhanden. Er äußert sich – wenn auch oft unreflektiert – in der Faszination für Vintage, für Patina, für sichtbare Alterung. Doch dieser Trend bleibt meist an der Oberfläche. Ein Hocker im Shabby-Chic ist noch kein Bekenntnis zur Dauer, sondern oft eine stilisierte Geste, die in der Logik des Konsums verbleibt: Alte Dinge werden neu produziert, damit sie alt aussehen. Das Neue wird kostümiert – nicht überdacht.

Was fehlt, ist eine Kultur der Beständigkeit, die nicht nur Objekte, sondern auch Haltungen umfasst. Dazu gehört die Wertschätzung der Pflege – nicht als Reparatur im Notfall, sondern als dauerhafte Praxis. Im Zen-Buddhismus ist das tägliche Putzen, das Aufrechterhalten des Bestehenden, ein Akt spiritueller Präsenz. Es ist Instandhaltung – im materiellen wie im seelischen Sinn. In dieser Haltung ist kein Platz für Wegwerfdenken, aber viel Raum für Achtsamkeit. Die westliche Industriegesellschaft hingegen versteht Pflege oft nur als Aufschub des Unvermeidlichen: Was nicht sofort kaputt geht, wird später ersetzt.

Auch unsere Recyclingwirtschaft folgt dieser Mentalität. Der Fokus liegt auf Rückgewinnung – im besten Fall bis auf die molekulare Ebene –, doch nicht auf dem Erhalt des Ganzen. In energieintensiven Prozessen werden aus Kunststoffverpackungen kurzlebige Kunststoffverpackungen, aus Glas wird wieder Glas  und aus Beton wird Granulat für Recyclingbeton. Doch Erzeugnisse als solche gelten als vergänglich. Statt sie zu pflegen, entwerfen wir neue Systeme, die sie nach ihrem „Tod“ zerlegen und in ein neues “Leben” überführen – möglichst automatisiert, möglichst profitabel. Recycling wird damit zur Ersatzreligion einer Wirtschaft, die sich um Suffizienz nicht kümmern will.

Neue Trends einer wirtschaftlich und ökologisch orientierten Baukultur zeichnen sich bereits ab: sie streben nicht nur Wiederverwertung von Baustoffe an, sondern Weiterverwendbarkeit von Erzeugnissen – Gebäude und Bauteile. Im Sinne einer beständigen Nachhaltigkeit müsste die Baukultur darüber hinaus aber ein anderes Zeitgefühl entwickeln: eines, das nicht 50 Jahre als Endpunkt, sondern als Etappe versteht – und anstatt über “End of Life” zu sprechen, sich dem “End of Lifecycle” und sanften, überlegten Übergängen widmet.

Das wäre ein Paradigmenwechsel – nicht nur in der Planung und Berechnung, sondern in der Haltung. Er würde verlangen, dass wir Beständigkeit nicht als Antithese zur Innovation begreifen, sondern als deren anspruchsvollste Form. Dass wir nicht schneller, sondern geduldiger bauen. Und dass wir nicht nur von Nachhaltigkeit sprechen, sondern auch von Fürsorge – für Dinge, Orte, die wir gestalten und die Zeit, die sie tragen.