Nicht-Orte der Freizeit: Die verkürzte Arbeitszeit und das lange Fragen nach Bedeutung

Claudiu Silvestru, 29.08.2025

Abstract. Die zunehmende Tendenz zur Teilzeitarbeit im europäischen und deutschsprachigen Raum wurde durch die COVID-19-Pandemie beschleunigt, jedoch nicht hervorgerufen. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der Bedeutung von Arbeit und der Erfahrung von Entfremdung in modernen Gesellschaften. Aufbauend auf klassischen Theorien von Marx, Arendt und Marcuse sowie aktuellen Analysen von Graeber lassen sich Dynamiken zwischen Arbeitszeitverkürzung, Sinnverlust und Suche nach Bedeutung aufzeigen. Die Verbindung arbeitssoziologischer Befunde – insbesondere Zeitverwendungsstudien und Arbeitsmarktstatistiken – mit philosophischen Ansätzen macht sichtbar, dass Teilzeitarbeit häufig als Versuch erscheint, dem als sinnlos empfundenen Erwerbsleben zu entkommen, die erhoffte Flucht in das Sinnvolle jedoch vielfach in konsumistische „Nicht-Orte“ führt, die die Entfremdung nicht überwinden, sondern transformieren.

Trend Teilzeit

In Europa ist seit den 1990er-Jahren ein kontinuierlicher Anstieg von Teilzeitarbeit zu beobachten: Laut Eurostat (2023) arbeiten 2022 etwa 18,5% aller Erwerbstätigen in der EU in Teilzeit. Besonders deutlich zeigt sich dieser Trend im DACH-Raum. In Deutschland arbeiten im Jahr 2023 rund 31% aller Erwerbstätigen in Teilzeit, wobei die Unterschiede zwischen den Geschlechtern markant ausfallen: Fast jede zweite Frau, aber nur etwa jeder achte Mann war teilzeitbeschäftigt (Statistisches Bundesamt 2024). In Österreich lag die Teilzeitquote 2022 bei knapp 29%, in der Schweiz sogar bei 38% (OECD 2023).

Dieser Trend ist nicht monokausal erklärbar. Einerseits spielen klassische Faktoren wie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie die strukturelle Dominanz des Dienstleistungssektors eine entscheidende Rolle. Insbesondere in Branchen wie Handel, Pflege oder Gastronomie sind Teilzeitmodelle stark verbreitet, da sie Arbeitgebern Flexibilität bieten und zugleich auf die Bedürfnisse von Beschäftigten mit Betreuungspflichten eingehen. Andererseits wächst auch unter jüngeren Generationen das Bedürfnis nach Work-Life-Balance, wodurch Teilzeit zunehmend als selbstgewählte Alternative zur Vollzeitbeschäftigung auftritt (Stepstone 2024).

Die COVID-19-Pandemie wirkte als Verstärker dieser Entwicklung. Während Lockdowns und Homeoffice-Phasen wurde Teilzeitarbeit für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zur Notwendigkeit, sei es aufgrund von Kinderbetreuung, Pflegeaufgaben oder eingeschränkter Beschäftigungsmöglichkeiten. Studien zeigen jedoch, dass viele Beschäftigte die pandemiebedingte Reduktion der Arbeitszeit als Chance für einen nachhaltigeren Umgang mit Arbeit und Freizeit empfanden (Eurofound 2021). Damit wurde die Pandemie zwar zum Katalysator, doch die eigentlichen Ursachen liegen tiefer: Die zunehmende Verdichtung von Arbeit, die Erosion traditioneller Berufsbilder und die Erfahrung, dass viele Tätigkeiten keinen erkennbaren gesellschaftlichen Sinn mehr stiften, bereiteten schon vor der Pandemie den Boden für den Wunsch nach Teilzeitmodellen.

Entfremdung durch Mechanisierung

Die Diskussion um die Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit reicht zurück bis zur Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Karl Marx formulierte in den “Ökonomisch-philosophischen Manuskripten” (1844) die bis heute einflussreiche Theorie der Entfremdung. Er unterschied vier Dimensionen: die Entfremdung vom Produkt, vom Produktionsprozess, vom eigenen „Gattungswesen“ (species-being) und von anderen Menschen (Marx 1844/1992). In der industrialisierten Produktionsweise werde Arbeit zur bloßen Funktion, der Mensch zu einem austauschbaren Bestandteil der Maschine. Die schöpferische, sinnliche und identitätsstiftende Dimension der Arbeit gehe verloren.

Im 20. Jahrhundert knüpften Denker wie Hannah Arendt und Herbert Marcuse an diese Diagnose an. Arendt unterschied in Vita activa (Arendt 1958) zwischen „Arbeiten“ (bloße Lebenserhaltung), „Herstellen“ (Produktion von Dauerhaftem) und „Handeln“ (sinnstiftendes In-der-Welt-Sein). In der modernen Arbeitsgesellschaft, so Arendt, dominiert das „bloße Arbeiten“ – der Mensch wird auf Konsum und Selbsterhaltung reduziert. Herbert Marcuse radikalisierte diese Kritik in “One-Dimensional Man” (1964). Ihm zufolge führe die technologische Rationalisierung zu einer ideologischen Entfremdung. Menschen identifizieren sich zunehmend mit den ihnen vorgegebenen Konsum- und Arbeitsstrukturen, wodurch die Fähigkeit zur kritischen Distanz unterminiert wird (Marcuse 1964). Entfremdung erscheint somit nicht nur als äußere Zwangslage, sondern als innere Verstrickung in ein System, das Lebenssinn auf Funktionalität und Konsum reduziert.

Harry Braverman widmet sich der materiellen Entfremdung. In “Labor and Monopoly Capital” (Braveman 1974) beschrieb er die „Degradation of Work“: Arbeit werde systematisch in kleinere, standardisierte Einheiten zerlegt, sodass Qualifikation und Autonomie der Beschäftigten abnehmen. Aus dem handwerklichen „Können“ wird eine serielle Tätigkeit, deren Ablauf fremdbestimmt und kontrolliert ist. Damit schwindet nicht nur die kreative Dimension der Arbeit, sondern auch die Möglichkeit, sich in der eigenen Tätigkeit zu verwirklichen.

In jüngerer Zeit hat David Graeber das Phänomen mit seinem Konzept der „Bullshit Jobs“ neu akzentuiert. Er beschreibt Arbeitsplätze, die keinen erkennbaren gesellschaftlichen Mehrwert schaffen, deren Existenz sich jedoch aus bürokratischen, politischen oder ökonomischen Logiken speist (Graeber 2018). Tätigkeiten wie redundante Administration, überbordende Berichtspflichten oder inhaltsleere Beratungsaufgaben illustrieren diese Diagnose. Empirische Untersuchungen zeigen, dass bis zu 20 Prozent der europäischen Beschäftigten ihre Arbeit als „sinnlos“ empfinden (OECD 2020). Die Entfremdung ist hier nicht nur strukturell, sondern auch subjektiv erfahrbar: Wer seine Tätigkeit als bedeutungslos erlebt, leidet an einer existenziellen Leere, die sich nicht durch Lohn kompensieren lässt. In diesem Kontext wird Teilzeitarbeit für viele zum Ausweg: Sie reduziert die Exposition gegenüber Tätigkeiten, die als sinnlos und entfremdet empfunden werden.

Diese historische Linie – von Marx’ Kritik der industriellen Arbeit über Bravermans Analyse der Dequalifizierung bis hin zu Graebers Beschreibung postmoderner „Bullshit Jobs“ – verdeutlicht, dass Entfremdung kein Relikt der Frühindustrialisierung ist. Sie manifestiert sich heute in neuen Formen, etwa in routinisierten Dienstleistungen, digitalen Plattformjobs oder fragmentierten Teilzeitmodellen.

Die bedeutungsvolle Arbeit

Die Frage nach bedeutungsvoller Arbeit ist zentral, um den Trend zur Teilzeitarbeit zu verstehen. Studien aus der Organisationspsychologie identifizieren drei Dimensionen sinnvoller Arbeit: (1) Autonomie und Selbstwirksamkeit, also das Gefühl, Kontrolle über Arbeitsprozesse zu haben und sichtbare Resultate zu erzielen; (2) der Beitrag zum Gemeinwohl, also die Wahrnehmung, dass die eigene Tätigkeit anderen zugutekommt; und (3) die Übereinstimmung mit persönlichen Werten und Identität (Rosso et al.  2010). Menschen erleben ihre Arbeit somit als sinnvoll, wenn sie einen direkten Bezug zwischen ihrer Tätigkeit und einem übergeordneten Zweck herstellen können.

Diese Dimensionen spiegeln sich in aktuellen Umfragen wider. Eine Gallup-Studie aus dem Jahr 2022 zeigt, dass Beschäftigte, die ihre Arbeit als sinnvoll empfinden, 4,6-mal häufiger eine hohe Bindung an ihren Arbeitgeber aufweisen als jene, die ihre Tätigkeit als bedeutungslos erleben (Gallup 2022). Ebenso betont eine Untersuchung von Eurofound, dass der Sinngehalt der Arbeit einer der stärksten Prädiktoren für Arbeitszufriedenheit und psychische Gesundheit in Europa ist (Eurofound 2021).

Historisch betrachtet ist das Bedürfnis nach sinnvoller Arbeit eng mit archetypischen Tätigkeiten verbunden. In der Landwirtschaft etwa war die Verbindung zwischen Tätigkeit und Lebensprozess unmittelbar: Der Viehzüchter erlebte das Gedeihen und Vergehen seiner Herde, der Winzer das Wachstum und die Reife des Rebstocks. Erfolg wie Scheitern waren sichtbar, fühlbar, sinnlich präsent. Arbeit bedeutete Teilnahme am Kreislauf des Lebens.

Im Kontrast dazu steht die moderne, fragmentierte Arbeitswelt, in der Routinen dominieren und Rückkopplung zum Lebensprozess häufig fehlt. Ein Kassensystem, das in endlosen Wiederholungen Produkte scannt, vermittelt kaum Sinn; Call-Center-Tätigkeiten oder standardisierte Pflege im Minutentakt lassen wenig Raum für Identifikation. Doch gerade hier wird deutlich, warum das Streben nach Sinnhaftigkeit universell bleibt: Menschen suchen Tätigkeiten, die einen Bezug zwischen Tun und Leben stiften, sei es durch Kreativität, soziale Resonanz oder gesellschaftliche Relevanz.

Das Konzept bedeutungsvoller Arbeit verweist somit nicht allein auf individuelle Präferenzen, sondern auf eine anthropologische Konstante. Arbeit ist mehr als Mittel zum Einkommen; sie ist eine Form der Selbstverwirklichung und Beziehung zur Welt. Je mehr Arbeitsmärkte Teilzeit und Flexibilität eröffnen, desto dringlicher stellt sich die Frage, ob diese Modelle auch die Möglichkeit zu Sinn und Resonanz eröffnen – oder ob sie lediglich die Fragmentierung und Entfremdung weiter vertiefen.

Teilzeitarbeit als Kompensationsmodell für Bedeutungsloses?

Teilzeitarbeit erscheint vielen als Möglichkeit, dem als sinnlos empfundenen Erwerbsleben zu entkommen. Sie verspricht Freiräume für Familie, persönliche Projekte oder schlicht für die Selbstsorge. Doch bringt die gewonnene Zeit tatsächlich die erhoffte Fülle an Bedeutung? Oder wird die Herausforderung der Sinnsuche nur verlagert?

Begründungen von Teilzeitarbeit bedienen sich an Sammelbegriffen, die die tatsächliche Qualität der Tätigkeit jedoch nicht definieren. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Kinderbetreuung. Als Sammelbegriff umfasst er Tätigkeiten, die von bloßer Aufsicht und notwendiger Pflege bis zu pädagogischer Förderung, ehrenamtlichen Tätigkeiten oder kulturellen Aktivitäten reichen. Erstere können monoton und belastend wirken, letztere jedoch als zutiefst sinnstiftend erfahren werden.

Theoretisch lässt sich dies als Ambivalenz beschreiben: Teilzeitarbeit ist Versuch und Möglichkeit zugleich, der Entfremdung zu entkommen, doch die erwartete Flucht ins Sinnvolle gelingt nicht automatisch. Stattdessen droht ein „Nicht-Ort“, an dem die frei gewordene Zeit nicht in Selbstverwirklichung, sondern in Konsum, passiver Freizeitgestaltung oder erneuter Routinearbeit mündet. Damit reproduzieren Teilzeitmodelle mitunter dieselbe Bedeutungslosigkeit, der sie entkommen sollten. Teilzeitarbeit ist somit kein Garant für Sinn, sondern ein Kompensationsmodell, das die Möglichkeit eröffnet, Bedeutung zu suchen – ohne dass diese Suche notwendigerweise gelingt.

Fazit. Der Trend zur Teilzeitarbeit lässt sich nicht allein auf pragmatische Gründe wie Kinderbetreuung oder eine angestrebte Work-Life-Balance zurückführen. Er verweist auf eine tiefere Krise moderner Arbeitsgesellschaften: die Erosion von Sinn und die Erfahrung von Entfremdung im Erwerbsleben. Zwar eröffnet die Verkürzung der Arbeitszeit neue Freiräume, doch diese verwandeln sich nicht automatisch in sinnstiftende Tätigkeiten. Häufig entstehen Zwischenräume, in denen Konsum, Passivität und digitale Zerstreuung die Lücke füllen – Räume, die eher als Nicht-Orte der Freizeit zu beschreiben sind.

Durch das Zusammendenken arbeitssoziologischer Daten und philosophischer Deutungen wird erkennbar, dass Teilzeitarbeit weniger eine endgültige Lösung als vielmehr eine ambivalente Suchbewegung darstellt. Sie verweist auf den Wunsch nach einer engeren Verbindung zwischen Tätigkeit und Leben, bleibt jedoch oft im Schwebezustand zwischen Entlastung und neuerlicher Sinnleere. Gerade in dieser Spannung zeigt sich, wie dringlich die Frage nach einer Arbeit wird, die nicht nur Einkommen sichert, sondern auch Bedeutung stiftet.

Literatur

Augé, Marc. 1992. Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité. Paris: Seuil.

Arendt, Hannah. 1958. The Human Condition. Chicago: University of Chicago Press.

Braverman, Harry. 1974. Labor and Monopoly Capital: The Degradation of Work in the Twentieth Century. New York: Monthly Review Press.

Eurofound. 2021. Living, Working and COVID-19. Luxembourg: Publications Office of the European Union.

Eurostat. 2023. “Part-Time Employment as Percentage of the Total Employment, by Sex and Age (%).” Zugriff am 27. August 2025. https://ec.europa.eu/eurostat/.

Gallup. 2022. State of the Global Workplace: 2022 Report. Washington, DC.

Graeber, David. 2018. Bullshit Jobs: A Theory. New York: Simon & Schuster.

Marcuse, Herbert. 1964. One-Dimensional Man: Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society. Boston: Beacon Press.

Marx, Karl. (1844) 1992. Ökonomisch-philosophische Manuskripte. In Marx-Engels-Werke, Ergänzungsband, Teil 1. Berlin: Dietz.

OECD. 2020. How’s Life? 2020: Measuring Well-Being. Paris: OECD Publishing.

OECD. 2023. Employment Outlook 2023. Paris: OECD Publishing.

Rosso, Brent D., Dekas, Kathryn H. und Wrzesniewski, Amy. 2010. “On the Meaning of Work: A Theoretical Integration and Review.” Research in Organizational Behavior 30: 91–127.

Statistisches Bundesamt. 2024. Teilzeitbeschäftigung in Deutschland – Ergebnisse der Arbeitskräfteerhebung 2023. Wiesbaden.

Stepstone. 2024. Arbeitsreport 2024: Was sich Beschäftigte in Deutschland wünschen. Düsseldorf.