Vom freien Wille und der Freiheit, etwas nicht zu wollen

22.07.2025

„Wer nun weiß, Gutes zu tun, und tut es nicht, dem ist es Sünde.“
– Jakobus 4,17

Freiheit wird in modernen Gesellschaften mit Handlungsfreiheit gleichgesetzt: Ich darf wählen, entscheiden, konsumieren, gestalten. Der freie Mensch erscheint als jemand, der Optionen hat – und diese möglichst selbstbestimmt nutzt. Doch diese Vorstellung übersieht, dass Wählen allein nur oberflächliche Freiheit garantiert. Bewusste Freiheit beginnt dort, wo ich nicht nur zwischen Optionen unterscheide, sondern mein Wollen selbst befrage: Warum will ich, was ich will?

Diese Wendung zur Selbstprüfung ist der entscheidende Schritt von einem oberflächlichen Verständnis von Freiheit hin zu einem Begriff, der Urteilskraft, Verantwortung und Autonomie umfasst. Der freie Wille ist nicht einfach die Erlaubnis, sich zu entscheiden – sondern die Fähigkeit, die Gründe der eigenen Entscheidungen zu reflektieren. Damit geht Freiheit über die bloße Möglichkeit hinaus, „Nein“ zu sagen. Sie besteht darin, etwas nicht zu wollen, weil ich erkenne, dass mein Wille in sich unreflektiert, unzuträglich oder unverantwortlich ist.

Immanuel Kant hat diese Differenz mit seiner Unterscheidung zwischen „pathologischer“ und „autonomer“ Freiheit grundlegend formuliert. Pathologische Freiheit meint ein Wollen, das durch Neigungen, Triebe oder äußere Impulse bestimmt ist – also ein Handeln, das auf unmittelbaren Nutzen oder Lustgewinn ausgerichtet ist. Autonom hingegen ist jener Wille, der sich aus Vernunftgründen leitet, der fragt: „Kann ich wollen, dass meine Maxime ein allgemeines Gesetz werde?“[1]

Entscheidend ist dabei nicht das Ergebnis – also ob ich ja oder nein zu einer Handlung sage –, sondern ob ich mein Wollen selbst in Frage stellen kann. Freiheit heißt bei Kant nicht Beliebigkeit, sondern Bindung an das, was ich mir selbst als richtig erkenne. Das verlangt Ehrlichkeit gegenüber mir selbst: Will ich etwas, weil es bequem ist, weil es mich kurzfristig entlastet – oder weil ich nach Abwägung der Umstände zu einem vernünftigen Urteil gekommen bin?

Ein alltägliches Beispiel: Es regnet, ich will zum Arzt. Ich habe ein Auto, ich darf es nutzen – also will ich fahren. Doch worin liegt der Grund meines Wollens? Will ich fahren, weil ich keine Lust habe, im Regen zu gehen? Oder weil ich ein Kleinkind dabei habe, das ich nicht durch Kälte tragen möchte? Die Handlung bleibt gleich – doch ihr ethisches Gehalt, die Freiheitsgrundlage, ist verschieden. Denn nur in der zweiten Variante ist mein Wollen begründet – nicht nur vor mir, sondern auch im Lichte der Vernunft.

In diesem Sinne ist Freiheit nicht die Freiheit zu tun, was ich will – sondern die Freiheit, zu erkennen, warum ich es will, und mein Wollen gegebenenfalls zu modifizieren. Es ist eine anspruchsvolle Freiheit, die auf Selbsterkenntnis und Urteilskraft baut – nicht auf spontane Impulse oder soziale Bestätigung. Gerade in einer Gegenwart, die vom ständigen Anreiz zum Wollen geprägt ist – durch Konsumkultur, Selbstdarstellung und Individualismus –, wird diese Form von Freiheit zur Herausforderung: Der freie Wille droht in einem endlosen Strom oberflächlicher Entscheidungen zu verschwinden. Die Reflexion über die Gründe des Wollens wird verdrängt von der permanenten Verfügbarkeit neuer Optionen. Wollen wird zur sozialen Technik, nicht zur ethischen Haltung.

Die christliche Tradition widmet sich diesem unkontrollierten Wollen mit einem eigenen Vokabular: den unfreien Willen, die sündige Neigung, den Rückbezug auf Gnade. Damit ist gemeint, dass der Mensch aus sich heraus das Gute nicht wollen könne – er müsse es durch göttlichen Zuspruch empfangen. Das entlastet – aber es entmündigt auch. Denn wenn ich das Gute nicht erkennen und tun kann, dann bleibt das Ethos leer. 

Der Jakobusbrief hingegen spricht von der Möglichkeit des Erkennens: „Wer weiß, was gut ist, und tut es nicht, …“ – das impliziert Urteilskraft. Verantwortung. Freiheit im eigentlichen Sinn. Der freie Wille wird so zum Prüfstein der Mündigkeit – er ist nicht das heroische Nein zu etwas Falschem, sondern das leise Innehalten angesichts des Begehrens: Will ich das wirklich? Und warum? Der freie Mensch ist nicht derjenige, der nie zögert – sondern derjenige, der den Mut hat, zu zögern. 

Gerade in einer Gesellschaft, die Geschwindigkeit belohnt, ist diese Form des Innehaltens fast schon ein subversiver Akt. Partizipation heißt nicht bloß Mitreden oder Abstimmen, sondern Mitdenken. Wer Teil einer demokratischen Gesellschaft sein will, muss mehr können als entscheiden – er muss prüfen, warum er entscheidet. Die Freiheit, zu entscheiden, aber auch sich zu enthalten, zu zögern, sich zu korrigieren – all das sind Zeichen echter Urteilskraft. In einer Zeit, in der schnelle Meinungen und klare Positionen gefragt sind, wird die Fähigkeit zur bewussten Zurückhaltung zu einer Form gesellschaftlicher Verantwortung: Die Freiheit, etwas nicht zu wollen, ist kein moralischer Verzicht, sondern eine ethische Leistung. Sie ist Ausdruck jener inneren Reife, die Kant Autonomie nennt: nicht das Wollen nach Belieben, sondern das Wollen nach Vernunft. Das verlangt keine Askese, sondern Aufrichtigkeit – gegenüber sich selbst, gegenüber anderen, gegenüber der Wirklichkeit.

Vielleicht liegt die größte Leistung des freien Willens also nicht in der Entscheidung selbst, sondern in der Fähigkeit zur Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst: „Ich könnte – aber ich will es nicht, weil ich die Gründe meines Wollens nicht berechtigt finde“.

[1] Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 400–440.